Zur Mitte - Juni 2020

von

Gedanken zum Exit

Friseursalons und Kirchen sind seit Anfang Mai wieder geöffnet. Dann ist ja alles gut…
Ist es das? Kann es jetzt endlich wieder so weiter gehen, wie es vor Corona war? Als wäre nichts gewesen…?

Ich denke, dass die Zeit der coronabedingten Einschränkungen einige Realitäten offenbar gemacht haben, die schon lange unter der bröckelnden Fassade verborgen waren: In der Gesellschaft, in der Wirtschaft, auch in der Kirche. Wir sind in der deutschen Kirche sehr stark geprägt von Gewohnheiten und Strukturen, die teilweise schon sehr alt sind und sich in früheren Zeiten wirklich bewährt haben. Seit dem März 2020 standen und stehen wir aber vor der Herausforderung einer kritischen Selbstreflexion: Bewährt sich in Krisenzeiten alles, was wir gewohnt sind? Ist das, was uns vor Corona wichtig war, auch danach zukunftsfähig? Was hat uns gefehlt? Wo waren wir ohnmächtig und blieben sprachlos?

Wenn ich diese Fragen in meinem Denken zulasse, dann kommt noch eine wesentliche hinzu: Wie kann ein Neustart des kirchlichen Lebens in der Öffentlichkeit aussehen?

Das kirchliche Leben muss auf unterschiedlichen Ebenen konstruktiv reflektiert werden: Bistum, Dekanat, Pfarrei, Familie, jeder von uns persönlich. Da wir uns als Unitarierinnen und Unitarier auch als Teil der Kirche sehen, stellt sich auch uns die Frage, wie wir es mit dem konkreten Leben des Glaubens auf Ebene der Vereine und des Verbandes halten.

Meines Erachtens braucht jede dieser Ebenen eine Idee, eine Vision, warum und wie Kirche überhaupt sein soll. Wozu braucht es die Kirche, wozu die Unitas? Was ist der „rote Faden“, dem ein Bistum, eine Pfarrei, ein Unitasverein oder auch der Verband folgt? Haben wir eine Richtung, ein Ziel, wo es hingehen soll? Am Grundsatz „der Weg ist das Ziel“ mag zwar einiges wahr sein, aber besteht nicht die Gefahr, dass beim „Weg als Ziel“ der Gehende ziellos umherirrt und sich im Kreis dreht? Nicht der Weg ist das Ziel, sondern das Ziel ist das Ziel!

Die Coronakrise, so schlimm sie auch ist - da gibt es nichts schön zu reden - bietet uns die unendlich wertvolle Chance einer Neuorientierung! Je klarer die Vision, zum Beispiel einer Pfarrei, formuliert ist, desto einfacher ist es, alles an diesem Grundsatz zu messen: Was führen wir fort? Was beenden wir? Was starten wir neu? Was dient der Verwirklichung unseres zentralen Ziels und was behindert es?

Wollen wir weiter in Gewohntem verharren, zum Beispiel bei der verbreiteten Versorgungsmentalität, oder sind wir bereit zum Überdenken der Gewohnheiten, um so einer Erneuerung, Vertiefung und Verlebendigung des kirchlichen Lebens die Bahn zu bereiten? Die Ressourcen der Kirche in Deutschland werden immer knapper, da ist die Verantwortung groß, die Kräfte zu bündeln und Ressourcen fruchtbringend einzusetzen. Ressourcen können finanzielle Mittel sein, aber auch die Bereitschaft zum ehrenamtlichen Engagement oder das Wohlwollen der Öffentlichkeit.

Das Individuum kann nicht losgelöst betrachtet werden von der Gemeinschaft: Grundlage für das Gesamt eines die Weltkirchliche umfassenden Glaubens muss und kann nur der persönliche Glaube, die individuelle Beziehung zu Christus sein. Das gleiche gilt aber auch umgekehrt: wer individuell seinen Glauben pflegt, ist immer auf die communio sanctorum, die Gemeinschaft der Heiligen hin geordnet und in ihr verwurzelt. Christ sein kann man nicht allein. Ich halte es für absolut notwendig, am Thema „Hauskirche“ dran zu bleiben. Die Hauskirche wurde in den vergangenen Wochen häufig genannt. Wurde sie dabei aber als eine vorübergehende Notlösung empfunden, oder erkennen wir in ihr ein mögliches Fundament der Kirche, nämlich als Raum für Individualität und Gemeinschaft? Von unserem Ursprung und der unitarischen Idee, die uns bis heute Maßstab ist, wäre der Unitasverein eine ganz konkrete Form, die Hauskirche zu leben: in einer bundesbrüderlichen Atmosphäre des Vertrauens und der Offenheit über das sehr persönliche Thema „Glauben“ sprechen, das Leben teilen, miteinander beten und einander im Glauben stärken.

Ein Segen ist das Bewusstsein, dass kirchliches Leben auf den sogenannten vier Grundvollzügen fußt: martyria, diakonia, liturgia, koinonia.

Das Glaubenszeugnis, die tätige Nächstenliebe, die Feier des Gottesdienstes und die kirchliche Gemeinschaft sind die vier Säulen unseres Kircheseins. Lebendigkeit der Kirche blüht dort auf, wo alle vier Säulen in einem ausgewogenen Verhältnis sind. Genügt es, einmal die Woche zur hl. Messe zu gehen, für 45 Minuten Christ zu sein, aber dann nicht in der Welt seinen Mann und seine Frau für das Evangelium zu stehen, wie wir es einmal auf die Unitasfahne versprochen haben? Es wäre andererseits auch verkürzt, zwar persönlich daheim zu beten, aber dann indifferent gegenüber meinen Mitmenschen und ihren Nöten zu sein!

Wenn wir uns jetzt in Richtung Exit bewegen, wenn also das kirchliche Leben in der Öffentlichkeit und in der Gemeinschaft mit den Schwestern und Brüdern wieder beginnen kann, dann wäre es eine vertane Chance, uns nicht neu zu orientieren und das, was Lebendigkeit der Kirche immer ausgemacht hat, wieder zu entdecken. Haben wir keine Angst, uns wachküssen zu lassen aus dem Dornröschenschlaf der Gewohnheiten von Sofa-Christen!

– Bbr. Stefan Wingen
(Geistlicher Beirat des Unitas-Verbandes)

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