Zur Mitte - April 2020

von

Gedächtnisgemeinschaft

Mit dem Herannahen des Frühlingsvollmonds geht das Kirchenjahr wieder seinem Höhepunkt entgegen – oder besser dem zweiten Brennpunkt seiner Ellipse: Nach Weihnachten, dem Fest des Anfangs, nähern wir uns Ostern, dem Fest der Vollendung. Im Gedächtnis von Jesu Tod und Auferstehung feiert die Christenheit den innersten Kern ihres Glaubens – den Glauben an einen Gott, der dem Menschen so nahe ist, dass auch der Tod uns nicht von ihm trennen kann.

Doch in diesem Jahr herrscht Ausnahmezustand: Geschlossene Einkaufsläden, Schulen und Kirchen, ein striktes Versammlungsverbot, das keine öffentlichen Gottesdienste mehr zulässt, das gesellschaftliche Leben am Nullpunkt. Die Corona-Pandemie betrifft jede und jeden von uns mehr oder weniger existenziell: ob durch die konkrete gesundheitliche Gefährdung, durch Sorge um die wirtschaftliche Gesamtentwicklung, durch eigene finanzielle Nöte oder soziale Vereinsamung. Wir wissen zwar: Die einschneidenden Maßnahmen sind richtig und wichtig – und doch fällt es nicht einfach sie hinzunehmen, besonders da sie ihre Wirksamkeit erst langfristig entfalten können.

Einen Großteil unserer Gesellschaft mag die Schließung von Kirchen, Synagogen und Moscheen dabei weit weniger treffen als der zwangsweise Verzicht auf den Kino- oder Club-Besuch. Für andere Menschen dagegen gehört die regelmäßige Feier der Gottesdienste ebenso sehr zum Lebensvollzug wie der wöchentliche Einkauf und hat eine ähnlich existenzielle Bedeutung wie unsere medizinische Grundversorgung.

Man glaubt nicht allein – und man glaubt nicht nur mit dem Kopf. Zum Wesen unseres Gottesdienstes gehört die Gemeinschaftserfahrung konstitutionell dazu. Rituale und sinnliche Eindrücke helfen, den eigenen Glauben auszudrücken und teilen zu können. All das bleibt uns gegenwärtig verwehrt, das schmerzt mit Blick auf das Osterfest jetzt besonders. Die vielfältigen Bemühungen, das kirchliche Leben über Livestreams und Socialmedia-Angebote in die digitale Welt zu tragen, sind ein ermutigendes Zeichen der Verbundenheit – unsere leibhaftige Teilnahme am Gottesdienst können sie nicht ersetzen.

Wir sind in diesen Tagen auf eine elementare Eigenschaft des Christentums zurückgeworfen: fußend in der Erzähltradition des Volkes Israel sind wir eine große Gedächtnisgemeinschaft – ausgespannt in Zeit und Raum, Vergangenheit und Zukunft vergegenwärtigend. Feiern wir das Gedächtnis Jesu deshalb auch jenseits der Gotteshäuser und liturgischen Bräuche. Erinnern wir uns an das, was die biblischen Geschichten über Gott erzählen – ebenso wie die vielen Geschichten des Alltags. Singen wir Lieder und zünden wir Kerzen an. Vergessen wir unsere Verwandten und Freunde nicht – und auch die Menschen, an die sonst niemand denkt. Entdecken wir Gottes Gegenwart im Unscheinbaren – im Aufbrechen der Frühlingsblumen oder in frisch geschnittenem Brot.

Und rufen wir mit den Emmaus-Jüngern in Peter Gerloffs ergreifender Adaption des anglikanischen Klassikers Abide with me: „Bleibe bei uns, du Wandrer durch die Zeit!“ (GL 325)

– Bbr. Moritz Findeisen

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